Full text: Die Berliner Arbeiterbewegung von 1890 bis 1905

156 und 157. Aufklärungsflugblatt über die Gründe, die zum 
Bierboykott führten 
A« die Kiüvchsek oon Min ui kt Lmck! 
Ein kleiner Ring von Kapitalisten, die vereinigten 
Brauereien von Berlin und Umgegend, hielt es für an 
gebracht, an einem recht drastischen Beispiel zu zeigen, daß 
der Kapitalismus sich alles erlauben darf, was Unternehmer- 
Hochmuth und Herrschsucht eingiebt. 
Weil eine Gruppe von Arbeitern, die Böttcher, sich erlaubt 
hatten, an die Brauerkönige das Ersuchen zu stellen, den l.Mai 
als Feiertag frei zu geben, und weil die Böttcher, als dieses 
Ersuchen theils abgelehnt, theils gar nicht beantwortet wurde, 
sich die Freiheit nahmen, am 1. Mai die Arbeit ohne spezielle 
Erlaubniß rulflm zu lassen, bestraften die Herren vom Brauer- 
ring diese „Frechheit" der Arbeiter, nur einen einzigen Tag 
im Jahre aus freiem Entschlüsse die Arbeit ruhen zu lassen, 
mit der „milden Sühne", daß sie die Böttcher bis zum 7. Mai, 
also weitere 6 Tage von der Arbeit überhaupt ausschlossen. 
Tie Arbeitöruhe am 1, Mai, erklärte der Ring, könne 
„in Rücksicht auf die Aufrcchthaltung des Betriebes und 
die Bedienung der Kundschaft namentlich während der 
Tauer der Mälzungsperiode" 
den Arbeitern nicht bcioilligt werden. Also nicht etwa die 
Prositsucht des Unternehmerthums, sondern nur die Rücksicht 
auf die „Bedienung der Kundschaft" sollte es unmöglich machen, 
den Böttchern den Tag frei zu geben. 
Als diese sich aber diese Freiheit nun doch nahmen, da 
sperrten dieselben Unternehmer, die erst erklärten: der Betrieb 
und die Kundschaft gestatte nicht einen Tag auszusetzen, die 
Böttcher eine volle Woche, bis zum 7. Mai, ans. 
Die Böttcher beantworteten diese Maßregel, indem sie nun 
ihrerseits die Forderung stellten: i. den Minimal-Wochenlohn 
von 27,50 Mk. aus 30 Mk. zu erhöhen, 2. die tägliche Arbeits 
zeit von 9'/„ ans 9 Stunden zu reduziren, 3. den l. Mai als 
Arbeiterseiertag zu bewilligen. 
So stand diese Angelegenheit, als am 6. Mai in einer 
Volksversammhikug in Rixdorf gcg-^n Den Widerspruch der 
Dort anwesenden Vertreter der Brauerei- und Böttcher- 
Srdciter der Boykott über der BcreioS-Brauerci in 
Rirdors beschlossen wurde. 
Dieser Beschluß gab nun dem Branerring den will 
kommenen Vorwand, den Streit, der bis dahin nur auf 
die Böttcher beschränkt war, einen allgemeinen Charakter zu 
geben und ihn auf die gesannnten Brauereiarbeitcr aus 
zudehnen. Zu diesem Behufe faßte der Ring den Beschluß, 
das; wenn b>s zun, 15. Mai der Rixdorfer Boykott-Beschluß 
nicht zurückgenommen werde, sämmtliche im Ring vereinigte 
32 Brauereien in Berlin und Umgegend „20 vCt. ihrer 
Arbeitnehmer und zwar in erster Linie Diejenigen, 
welche sich bisher an den Bestrebungen hiesiger 
Arbeiter, durch Boykottirung einzelner Brauereien 
Zugeständnisse in Sachen des BvUcherstrerks zu er 
ringen. betheiligt haben", entlassen werden. 
Dieser Beschluß wurde auch der Berliner Gewcrk- 
schnsts-Kommiision offiziell zugestellt. Diese hat umgehend 
in folgender Weise geantwortet: 
An u. s. w. 
Die Berliner Gewerkschafts-Kommission sicht dein Beschlusse 
der Volksversammlung vom 6. Mai in Rirdors. betreffend den 
Boykott der Verciusbraucrei, vollständig uubcthciligt 
gegenüber. Dieser Beschluß ist ohne unser Zuthun gefaßt 
worden. Wir haben bisher weder Anlaß gehabt, uns zustimmend 
zu demselben zu äußern, noai sind wir in der Lage, wie es in 
der Zuschritt der vereinigten Brauereien von uns verlangt wird, 
denselben rückgängig zu machen. 
Die Berliner Gewerkschaften, welche zu vertreten wir die 
Ehre haben, haben bisher weder einen solche» oder ähnlichen 
Beschluß gefaßt, noch ist die Absicht laut geworden, unserer 
seits in gleicher Weife vorzugehen. 
Wir haben den Ausschluß der Böttcher seitens einzelner 
Brauereien als eine interne Angelegenheit der Betheiliglen 
betrachtet und behandelt, bei der allrrdlngs unsere Sympathien, 
wie wobt die Sympathien der gelammten Arbeiterschaft, aas 
Seiten der gemaßregeltcn Arbeiter stehen. Ein Vorschlag aber, 
weiter zu gehen, und speziell der, einen Boykott gegen eine 
der bcthciligtcn Brauereien zu erkläre», ist weder von uns 
noch von irgend einer anderen Organisation der Berliner Ar 
beiterschaft bis jetzt in Erwägung gezogen worden. 
Indem wir unter solchen Umständen das Verlangen der ver 
einigten Brauereien, den Rixdorfer Boykottbeschluß rückgängig 
u machen, ablehnen müssen, da uns zu einem solchen Vorgeyen 
oivohl die Legitimation wie auch die Möglichteik des Erfolges 
fehlt, wollen wir nicht verhehlen, unserem Bedauern darüber 
Ausdruck zu geben, daß seitens der vereinigten Brauerei-Unter 
nehmer, ohne sich vorher die Mühe zu mache», sich ge 
nügend zu informircn, ganz nubcthcrligte Arbeiter gc- 
mäffregclt worden sind und noch weitere Kreise derselben 
mit Maßregelung bedroht werden. 
Indem wir uns der Hoffnung hingeben, daß nach vorstehen 
der Klarstellung unsererseits die vereinigten Brauereien von ihrer 
Absicht, die Zahl der Gemaßregeltcn zu vermehren, abstehen 
werden, fügen wir noch den Wunsch bei, daß auch die Differenz 
mit den Böttchern recht bald zu beiderseitiger Befriedigung 
beigelegt werden möge. ' . 
Sollte aber wider Erwarten und gegen unseren Willen 
seitens der vereinigten Brauereien der in der Zuschrift vom 
8. Mai angedrohte Angriff auf die gesammte Arbeiterschaft 
Berlins iuszenirt werden, so sehen wir dieser Eventualität mit 
voller Seelenruhe und in dem Bewußtsein entgegen, daß einer 
solchen Provotalion gegenüber — au deren Möglichkeit wir aber 
nicht glauben wollen — die Arbeiterschaft Berlins ihre oft be 
währte Solidarität auf's Reue und in glänzender Weise bethätigen 
In dem B-wußsciu, unsererseits nichts gethan zu 
haben, einen überflüssigen und in seinen Folgen nuab- 
schbarcn Streit herauf zn beschwören, zeichnet 
Achtungsvoll 
Der geschäftssührende Ausschuß 
der Berliner Gewerkschafts-Kommission. 
Der Branerring antwortete ans diese gewiß friedliche 
Erklärung damit, daß er am 16. Mai die angedrohte Ent 
lassung Der Arbeiter rücksichtslos durchführte. Vicr- 
biö fünfhundert Arbeiter wurden ohne jede Schuld 
plötzlich ans,'er Arbeit und Brod gesetzt. 
Bon dieser Maßregel wurden Arbeiter betroffen, welche 
10 bis 15 Jahre ihre Stellen bekleidet haben, die ihre besten 
Jahre und ihre Gesundheit im Dienste der Unternehmer des 
Brauerrings geopfert haben und denen es heute doppelt 
schwer, wenn nicht ganz unmöglich wird, in einem anderen 
Berufe Arbeit und daniit Gelegenheit zu finden, Brod für 
sich ,iuU ihre Familien zu verdienen. 
Reben denjenigen Arbeitern, von welchen man wußte, 
daß sie ihrer Berufs-Organisation, angehörten, wurden mit 
besonderer Vorliebe Familienväter und die älteren 
Arbeiter entlassen. Der letzteren, gleich ausgepreßten 
Zitronen sich zu entledigen, liegt ja im Unter,tehmer- 
Interesse. Giebt c8 doch junge Arbeiter genug, und was 
braucht sich die Habsucht der Dividendcnschl ucker um das 
Schicksal jener Arbeiter zit kümmern, deren Glieder in lang 
jähriger Mühe und Arbeit steif und deren Knochen mürbe 
geworden sind! 
Fünfhundert Arbeiter bläßlich, ohne Kündigung 
entlassen. Und warum? 
Keiner dieser Arbeiter hat am I. Mai gefeiert, keiner 
derselben sonst irgend eine -Forderung gestellt. Biele dieser 
plötzlich Entlassenen haben vielleicht gar keine Kenntniß davon 
gehabt, was am 6. Mai in Rixdorf beschlossen worden ist, 
sicher halte Keiner von ihnen die Möglichkeit, beu Beschluß 
zu verhindern oder, nachdem er gefaßt war, ihn rückgängig 
zu machen. Die Behauptung der Leiter des Brauerrings, 
daß. „die Führer 'dcS Brauerci-HülfZarbcitcrvereins in der 
Rixdorfer Versammlung eine hervorragende Rolle gespielt 
haben", hat sich sofort als eine aus den Fingern gesogene 
Lüge erwiesen.- Der Vorsitzende des Vereins der Hülss- 
arbciter hat öffentlich erklärt, daß in der betreffenden Ver 
sammlung von den Vorstandsmitgliedern und Vertrauens 
leuten des Vereins nicht rin Einziger in Der Versamm 
lung anwesend war. 
Der Branerring hat auf' diese moralische Ohrfeige ge 
schwiegen. 
In dem Vorgehen der Herren vom Branerring liegt 
also eine ganz brutale, dttrch rein gar nichts gerechtfertigte 
Maßregelung von Hunderten von Familienvätern und Ar- 
beitern. Nur Willkür. Herrschsucht und Protzentzoch- 
muth hat den Ni»g bei seiner Maßregel geleitet. 
Einer solchen frechen Herausforderung gegenüber mußte 
die Arbeiterschaft Berlins "Stellung nehmen und sie that cs 
in inlpojanter Weise, indem sie am Freitag, den 18. Mal in 
neun Volksversammlungen, welche alle überfüllt waren, so 
daß der Zugang längst vor Beginn der Verhandlungen
	        
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